Jahrzehntelang prägte das Streben nach Effizienz industrielle Strategien. Schlanke Lieferketten, globale Beschaffungsmaßnahmen und „Just-in-Time“-Produktion galten als Inbegriff operativer Exzellenz. Doch diese Logik gerät in einer Welt voller geopolitischer Schocks, schwankender Rohstoffpreise und systematischer Krisen zunehmend unter Druck.
Heute ist die Resilienz ein strategisches Gebot. Industrieunternehmen bauen flexible Ökosysteme auf, die Krisen abfedern und Wachstum sicherstellen. Denn die Zeit drängt: Die USA haben bereits einen Importzoll von 50% auf Kupfer erhoben. Es ist nur ein Beispiel, das zeigt, wie schnell die Politik entscheidende Wertschöpfungsketten umformen kann. Wer jetzt nicht handelt, riskiert Produktionsstillstände und verliert langfristig an Wettbewerbsfähigkeit. Die entscheidende Frage lautet also: Wie schaffen Unternehmen Resilienz, die echten Mehrwert erzeugt?
Eine fragile Weltordnung
Eine multipolare und instabile Weltordnung bestimmt unser heutiges Geschäftsumfeld: Geopolitische Spannungen und systemische Schocks offenbaren, wie brüchig global integrierte Lieferketten sind. Ereignisse wie die COVID-19-Pandemie, Seeblockaden, der Krieg in der Ukraine, der eskalierende Nahostkonflikt und der wachsende Protektionismus haben den Handel gestört und den Zugang zu wichtigen Gütern erschwert.
Die Folgen sind spürbar: Energiepreise schnellen unvorhersehbar in die Höhe, Rohstoffzugang wird erschwert und die Inflation verzerrt die Kostenstrukturen. Diese Dynamik trifft vor allem jene Branchen hart, die stark von importierten Roh- und Grundstoffen abhängen. So befinden sich beispielsweise über 77 % der Platinreserven in Südafrika, während China über 98 % der in der EU benötigten Magnete aus seltenen Erden liefert. Dadurch sind kritische Engpässe für nachgelagerte Industrien entstanden.
Flexibilität schlägt Optimierung
Führende Industrieunternehmen passen sich der neuen Weltordnung an: Sie rücken von reiner Kosteneffizienz ab und setzen stärker auf strategische Flexibilität. Dazu gehören gezielte Maßnahmen wie flexible Logistik/optionale Lieferrouten und ein breit aufgestellter Beschaffungsprozess. Auch Autarkiestrategien wie die Kreislaufwirtschaft gewinnen an Bedeutung. Diese Hebel bieten mehr Kontrolle, weniger Abhängigkeit und höhere Flexibilität. Allerdings haben sie ihren Preis: Es kostet nicht nur zusätzlichen Kapitaleinsatz, sondern verringert auch die Vorteile, die aus der Spezialisierung und globaler Arbeitsteilung entstehen.
Zwei Maßnahmen ragen heraus: Nearshoring und Kreislaufwirtschaft:
- Nearshoring verlagert die Produktion näher an die Absatzmärkte, bleibt jedoch abhängig von der Verfügbarkeit der Ressourcen.
- Die Kreislaufwirtschaft erlaubt es Unternehmen, die Verfügbarkeit von Rohstoffen teilweise selbst zu gestalten. Sie gewinnen Materialien zurück, verwenden sie erneut und senken so die Abhängigkeit von Importen.
Resilienz stärken durch Nearshoring
Mit den sich wandelnden Handelsströmen überdenken Unternehmen ihre Produktions- und Beschaffungsstandorte. Laut aktuellen Daten arbeiten über 57 % der globalen Supply-Chain-Manager daran, ihre Wertschöpfungsaktivitäten zu regionalisieren. Dieser Wandel spiegelt sich auch im Handelsverhalten wider: Im Jahr 2019 bezogen noch 61 % der Käufer aus der EU und den USA Materialien in China; bis 2025 ist dieser Wert auf 42 % gesunken.
Für Unternehmen im Chemicals, Energy and Materials-Sektor waren Kapitalexporte zur Produktion ins Ausland lange eine bewährte Strategie, um näher an wichtige Märkte und Kunden heranzurücken. Eine regionale Produktion sichert den Marktzugang, reduziert logistische Risiken und eröffnet den Zugang zu lokaler Wirtschaftsförderung bzw. Subventionen.
Über die operativen Vorteile hinaus eröffnet Regionalisierung auch vielfältige kommerzielle Chancen. Die Nähe zu den Schlüsselmärkten ermöglicht eine engere Kundenbindung, eine höhere Reaktionsfähigkeit auf regulatorische Veränderungen und oftmals auch mehr Spielraum bei der Preisgestaltung – etwa durch einen differenzierten Service oder eine stärkere ESG-Ausrichtung. Ein Beispiel: BASFs Investition von 10 Mrd. USD in Zhanjiang (China) schützt nicht nur vor Handelsbarrieren, sondern positioniert das Unternehmen zugleich für das Wachstum der Nachfrage aus nachgelagerten Industrien.
Diese Neuausrichtung erfordert jedoch Kompromisse. Eine regionale Produktion führt meistens zu höheren Inputkosten, komplexeren Genehmigungsverfahren und erheblichen Investitionen in die Infrastruktur. Gleichzeitig wächst die Abhängigkeit von den Ressourcen vor Ort.
Rohstoff-Flexibilität durch Kreislaufwirtschaft
Nearshoring verbessert damit zwar die Nähe zum Markt und die Reaktionsfähigkeit, löst aber nicht das Risiko in der vorgelagerten Lieferkette. Die Kreislaufwirtschaft hingegen adressiert genau diese Herausforderung, wird bislang jedoch deutlich zu wenig genutzt. Trotz des zunehmenden Bewusstseins sind die globalen Wertschöpfungsketten immer noch weitgehend linear: Nur etwa 7 % der Materialien werden in den Produktionskreislauf zurückgeführt. Dies führt zu einer dauerhaften Anfälligkeit gegenüber volatilen Rohstoffmärkten, fragilen Abbaugebieten und wachsendem Regulierungsdruck.
Die Kreislaufwirtschaft reduziert diese Risiken, indem „End-of-Life“-Materialien wieder in die Produktion integriert werden und so den Bedarf an neuen Rohstoffen senken. Wenn die Rückgewinnung, Verarbeitung und Wiederverwendung regional gebündelt sind, können Unternehmen sich selbst verstärkende Kreisläufe aufbauen, die Versorgungssicherheit erhöhen, die ökologische Positionierung verbessern und zusätzliche wirtschaftliche Vorteile erschließen.
Die ersten strategischen Entscheidungen in diese Richtung werden bereits getroffen: Eastman investiert beispielsweise 1 Mrd. EUR in das chemische Kunststoffrecycling – nicht in der Nähe traditioneller fossiler Rohstoffquellen, sondern an Standorten, an denen Kunststoffabfälle entstehen. Umicore verfolgt eine ähnliche Logik mit seiner modernen Anlage für Metallrecycling in Belgien, wo Materialien aus regionalen Reststoffen und Batterieschrott zurückgewonnen werden. Beide Fälle verdeutlichen eine strategische Neuausrichtung: weg von globalen Rohstoffströmen, hin zu regionalen Kreisläufen, die Importabhängigkeiten verringern und die Versorgungssicherheit erhöhen. Gleichzeitig entstehen günstige Bedingungen für eine starke Preissetzungsmacht – durch die Kundennähe, verlässliche Lieferung und ein Portfolio, das mit regulatorischen Vorgaben und ESG-Prioritäten im Einklang steht.
Das Ausschöpfen dieses Potenzials erfordert jedoch kommerzielle Disziplin. Zirkuläre Geschäftsmodelle erfordern stabile Inputströme, eine rentable Rückgewinnung und müssen die politischen Rahmenbedingungen berücksichtigen. Anlagenkonzepte, Kapitaleinsatz und Preisstrategien müssen von Beginn an aufeinander abgestimmt sein.
Die zentrale Frage lautet daher nicht nur, ob die Kreislaufwirtschaft Risiken reduziert, sondern auch, wo sie echtes Margenpotenzial schafft. Welche Materialien ermöglichen wettbewerbsfähige Preise? Wie verändert regionale Rückgewinnung die Kundenbeziehungen oder den Anspruch auf Fördergelder?
Die Kreislaufwirtschaft mindert dabei nicht nur Risiken – sie bietet zugleich die Chance, Lieferketten in einen strategischen Wettbewerbsvorteil zu verwandeln. Unternehmen, welche die Investitionen in die Kreislaufwirtschaft konsequent aus einer kommerziellen Perspektive betrachten, werden in der Zukunft am besten positioniert sein, um Resilienz in langfristige Vorteile zu überführen.
Eine gemeinsame Strategie für Resilienz und Wertschöpfung
Energie, Sicherheit, Geopolitik: Dieser Dreiklang bestimmt heute die industriellen Investitionen. Vor diesem Hintergrund muss die strategische Entscheidung zur operativen Regionalisierung sorgfältig geprüft werden. Denn Unternehmen, die diesen Schritt richtig umsetzen, können ihren Standort zu einem echten Wettbewerbsvorteil machen: Sie stabilisieren Lieferketten, sichern den Marktzugang und wandeln Nähe vor Ort in kommerziellen Mehrwert um.
Dafür braucht es jedoch eine gründliche Bewertung von Chancen und Risiken – von der vorhandenen Infrastruktur über die Auswirkungen auf die Kunden bis hin zur Investitionslogik und dem Potenzial zur Monetarisierung.
Durch die regionale Produktion und geschlossene Materialkreisläufe können Unternehmen …
- den Zugang zu wichtigen Vorprodukten sichern und die Abhängigkeit von unsicheren oder zu stark auf einzelne Akteure konzentrierten Bezugsquellen reduzieren,
- die Schwankungen bei Kosten, Transport und Verfügbarkeit in zentralen Rohstoffen und Energie abfedern,
- ihre Marktposition durch Zuverlässigkeit, Nachhaltigkeit und Nähe zur Nachfrage stärken,
- Preisflexibilität und Margenpotenzial dort schaffen, wo Versorgungssicherheit auf Kundennutzen trifft und
- die Investitionen an politischen Anreizen, der vorhandenen Infrastruktur und regionalen Wachstumstrends ausrichten
Gewinnen werden am Ende jene, die Resilienz in messbare Erfolge bei Kosten, Kundenrelevanz und Preisdurchsetzung übersetzen. Die Herausforderung für industrielle Führungskräfte ist daher nicht, ob sie handeln sollen, sondern wie sie sicherstellen, dass ihre Investitionen in die Resilienz einen messbaren und kommerziellen Mehrwert schaffen.
Das bedeutet, strategische Abwägungen bei Standorten, Materialien und der Kundenansprache zu treffen – und gleichzeitig sicherzustellen, dass Kapital dorthin fließt, wo Resilienz die Margen stärkt und langfristige Widerstandsfähigkeit schafft. Wie jede andere strategische Initiative müssen auch Resilienz-Investitionen dem Unternehmen einen klaren Nettonutzen bringen.
Die folgenden Fragen helfen, zu erkennen, wo strategische Resilienz sich rentiert:
- Wo reduziert eine Investition Risiken tatsächlich, und wo verschiebt sie lediglich die Kosten oder die Komplexität?
- Wie sollten Investitionen in Resilienz gegenüber anderen Wachstumshebeln in Ihrem Portfolio priorisiert werden?
- Welche Materialien lohnen sich für eine Regionalisierung oder einen geschlossenen Kreislauf – und welche sollten Sie weiterhin global beziehen?
- Welche Standorte oder Lieferkreisläufe verbinden Nähe, politische Anreize und Infrastruktur zu einem echten strategischen Vorteil?
- Welche Resilienz- und Risikostandards erwarten Ihre Kunden – und wann werden diese zur Voraussetzung für Ihr Geschäft?
- Wie verändert Ihre Resilienzstrategie die Marktpositionierung – und wo können Sie diesen Vorteil in der Preisgestaltung durchsetzen?
Von der Flexibilität zum Wettbewerbsvorteil: Wie Simon-Kucher Sie unterstützt
Autarkie aufzubauen – durch geschlossene Materialkreisläufe nahe am Markt – schafft Wettbewerbsvorteile und echten Mehrwert. Für Unternehmen des Chemicals, Energy & Materials-Sektors bedeutet das: Richten Sie Ihre Investitionen nicht nur an der Versorgungssicherheit aus, sondern auch an kommerziellen Chancen.
Wir bei Simon-Kucher helfen Industrieführern, Resilienz dort zu verankern, wo sie am meisten zählt: in der Marktstrategie, der Wertschöpfung und bei der Priorisierung von Investitionen. Ob mit Nearshoring-Szenarien, einer regionalen Standortstrategie oder Roadmaps für die Kreislaufwirtschaft – wir arbeiten mit unseren Industriekunden daran, Flexibilität jederzeit in einen Wettbewerbsvorteil zu verwandeln. Fundierte kommerzielle Modelle, die Ausrichtung an der Nachfrage und die Analyse politischer Rahmenbedingungen unterstützen Sie auf diesem Weg.
Um nachhaltige Transformation anzustoßen, sollten Sie sich fragen: Wie viel Unsicherheit kann Ihre Wertschöpfungskette verkraften? Wo haben Ihre Initiativen zur Regionalisierung oder Kreislaufwirtschaft bereits Wirkung gezeigt? Und wo schaffen Sie schon heute strategische Resilienz, die Wachstum ermöglicht? Sprechen Sie uns an, um dieses Thema weiter zu vertiefen.
Unsere kommende Chemicals, Energy & Materials-Studie 2025 wird aufzeigen, wie Führungskräfte in Nordamerika und Europa auf geopolitische Umbrüche, neue Vorschriften und Ressourcenknappheit reagieren. Zudem untersucht die Studie, wo sich die Resilienz bereits auszahlt und was die Vorreiter von den Nachzüglern unterscheidet.
In unserem nächsten Beitrag beleuchten wir für Sie, wie die Digitalisierung und veränderte Kundenerwartungen die B2B-Wertschöpfungsketten neu formen: von der Monetarisierung „grüner“ Technologien bis hin zum Einsatz von KI in Vertrieb und Preisgestaltung.